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Wenn eine Schraube entscheidet – Zur Bedeutung medizinischer Feindiagnostik im IV-Verfahren

2025-06-03 10:23:00

Die Invalidenversicherung stützt sich bei der Beurteilung von Rentenansprüchen auf medizinische Gutachten, die möglichst objektiv die verbleibende Arbeitsfähigkeit beurteilen sollen. Doch was geschieht, wenn ein entscheidender medizinischer Befund erst im Nachhinein entdeckt oder vertieft dokumentiert wird? Ein aktueller Entscheid des Bundesgerichts (Urteil 9C_570/2023 vom 11. April 2025) zeigt exemplarisch, wie wesentlich derartige Details für den Ausgang eines Verfahrens sein können.

Der Fall: Schraube mit Folgen

Ein Versicherter hatte sich nach einer Rückenoperation mit dynamischer Stabilisierung (L4-S1) erneut bei der IV angemeldet und eine Verschlechterung seines Gesundheitszustands geltend gemacht. Die IV-Stelle liess ein multidisziplinäres Gutachten erstellen, das keine relevante Irritation einer Nervenwurzel feststellte. Entsprechend wurde weder eine Rente noch eine Umschulung gewährt.

Später reichte der Versicherte neue medizinische Berichte ein, die eine bislang nicht erwähnte, aber chirurgisch eindeutig sichtbare Fehllage einer Operationsschraube dokumentierten. Diese drückte auf die linke L5-Nervenwurzel und verursachte eine anhaltende Lumboischialgie. Zwei behandelnde Ärzte attestierten daraufhin eine vollständige Arbeitsunfähigkeit in adaptierten Tätigkeiten. Der Eingriff war bereits Jahre zuvor erfolgt – das Problem bestand also potenziell schon im relevanten Beurteilungszeitraum.

Feinabklärung statt Nichtbeachten

Das kantonale Gericht lehnte eine Neubewertung ab und verwies darauf, dass die radiologischen Untersuchungen und Berichte erst nach dem ursprünglichen IV-Entscheid eingereicht worden seien (sogenannte Noven). Das Bundesgericht hingegen stellte klar: Wenn ein relevanter medizinischer Zustand schon zum damaligen Zeitpunkt bestand, müssen auch nachträglich eingereichte Unterlagen berücksichtigt werden – besonders dann, wenn das frühere Gutachten diesen Punkt gar nicht würdigt.

Damit erteilt das Bundesgericht einer allzu formalen Betrachtungsweise eine Absage. Es mahnt zur sorgfältigen medizinischen Klärung und verlangt, dass die neuen Erkenntnisse den ursprünglichen Gutachtern zur Stellungnahme vorgelegt werden. Nur so lasse sich ausschliessen, dass ein zentraler medizinischer Aspekt unbeachtet bleibt.

Implikationen für Versicherte und Fachpersonen

Der Entscheid unterstreicht, dass auch scheinbar „kleine“ medizinische Details wie eine minimal abweichende Schraubenlage erhebliche sozialversicherungsrechtliche Folgen haben können. Für behandelnde Ärztinnen und Ärzte sowie für Rechtsvertreter von Versicherten bedeutet dies, dass radiologische Aufnahmen, Operationsverläufe und differenzierte Symptome sorgfältig dokumentiert und im Zweifel gezielt nachuntersucht werden sollten.

Auch die Sozialversicherungsgerichte müssen sich der Tatsache bewusst bleiben, dass relevante Einschränkungen nicht immer durch die erste Expertise vollständig erfasst werden. Eine zusätzliche Abklärung kann – wie in diesem Fall – nicht nur angemessen, sondern im Lichte des rechtlichen Gehörs und des Untersuchungsgrundsatzes sogar geboten sein.

Fazit

Wo medizinische Feindiagnostik auf sozialversicherungsrechtliche Bewertung trifft, liegt die Wahrheit oft im Detail. Eine einzelne Schraube – falsch platziert, nicht erkannt, aber dokumentiert – kann über das Schicksal eines Rentenanspruchs entscheiden. Dieses Urteil mahnt zur Wachsamkeit und zur vertieften Auseinandersetzung mit dem medizinischen Sachverhalt – im Interesse der materiellen Gerechtigkeit.