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Invalidenrente auch bei leichter Depression und Angststörung

2025-04-01 09:29:00

Invalidenrente trotz leichter Depression und Angststörung? Ein Bundesgerichtsurteil klärt auf

Am 28. Februar 2025 entschied das Bundesgericht im Urteil 9C_443/2023 über einen Fall, der auf den ersten Blick überrascht: Eine junge versicherte Person mit nur leicht- bis mittelgradiger Depression erhält rückwirkend für 8 Jahre eine halbe Invalidenrente zugesprochen – trotz des gesetzlich verankerten Grundsatzes "Eingliederung vor Rente".

Wie passt das zusammen? Das Urteil zeigt eindrücklich, unter welchen Voraussetzungen auch bei leichter psychischer Erkrankung ein Rentenanspruch bestehen kann – zumindest vorübergehend.

Der Fall in Kürze

Die versicherte Person leidet an einer depressiven Störung mit ausgeprägter Tag-Nacht-Umkehr und einer Angststörung begleitet von einer Spielsucht.

Berufliche Eingliederungsmassnahmen der IV scheiterten, u. a. wegen fehlender Tagesstruktur und häufigen Absenzen. Die IV-Stelle verneinte 2019 jeglichen Rentenanspruch – die Person sei grundsätzlich arbeitsfähig und könne sich selbst durch Therapie und Eigeninitiative wieder eingliedern.

Das kantonale Versicherungsgericht kam jedoch nach umfassender psychiatrischer Begutachtung zum Schluss: Eine volle Arbeitsfähigkeit ist erst möglich, wenn die nötige Behandlung abgeschlossen ist. Bis dahin liegt eine 50-prozentige Arbeitsunfähigkeit vor – und damit Anspruch auf eine halbe Rente.

Die IV-Stelle zog den Entscheid ans Bundesgericht weiter – und verlor.

Was sagt das Bundesgericht?

Das Bundesgericht bestätigt die Zuerkennung der halben Invalidenrente – vorübergehend. Die Begründung ist differenziert:

  1. Aktuelle Arbeitsunfähigkeit zählt, nicht theoretisches Potenzial:
    Auch wenn das volle Leistungspotenzial durch Therapie wieder erreichbar wäre, ist entscheidend, was derzeit möglich ist. Und aktuell besteht eine nachvollziehbar begründete Einschränkung von 50 Prozent.
  2. Behandelbarkeit schliesst Rente nicht automatisch aus:
    Dass eine Krankheit behandelbar ist, heisst nicht, dass kein Rentenanspruch besteht. Nur wenn die versicherte Person selbst und ohne weitere Unterstützung ihre Arbeitsfähigkeit wiederherstellen kann, besteht kein Rentenanspruch. Das war hier nicht der Fall.
  3. Medizinische Behandlung ist keine Eingliederungsmassnahme:
    Der Grundsatz "Eingliederung vor Rente" bezieht sich auf gesetzlich vorgesehene berufliche Massnahmen (z. B. Umschulung, Arbeitstraining) – nicht auf medizinische Therapien. Diese gelten nicht als Eingliederung im Sinne des IVG und stehen einem Rentenanspruch nicht entgegen, wenn sie noch bevorstehen oder laufen.
  4. Keine Pflicht zur Selbsteingliederung:
    Die Therapie, die hier nötig ist, umfasst ein komplexes Setting (u. a. koordinierte psychiatrische Behandlung, Verhaltenstherapie, strukturelle Massnahmen wie begleitetes Wohnen). Der Versicherte hat es nicht selber in der Hand, das umsetzen. Eine Selbsteingliederungspflicht besteht deshalb nicht.

Fazit

Das Bundesgericht hat klargestellt:

Auch bei leichter Depression kann eine Invalidenrente zugesprochen werden – sofern die Beeinträchtigung aktuell gegeben ist und nicht durch einfache Selbsthilfe beseitigt werden kann. Die versicherte Person hat aber eine klare Mitwirkungspflicht.

Die Rente ist in solchen Fällen nicht dauerhaft, sondern gilt vorläufig, bis die nötigen therapeutischen Schritte abgeschlossen sind. Anschliessend wird die Situation neu beurteilt.

Unser Tipp für Betroffene und Fachpersonen:
Dieses Urteil zeigt, wie wichtig eine saubere medizinische Dokumentation, ein individuell abgestimmtes Behandlungskonzept und die realistische Einschätzung der aktuellen Leistungsfähigkeit sind. Gerade bei psychischen Erkrankungen lohnt sich ein genauer Blick – auch bei scheinbar "leichten" Diagnosen.