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BLOG UND FACHARTIKEL
Anforderung medizinische Gutachten der IV
Abgrenzungen
Beim Arztbericht stehen (spezifische) abgeschlossene Abläufe im Vordergrund; Feststellungen werden nicht oder nur knapp begründet. Im Gegensatz dazu wird im medizinischen Gutachten ein klar definiertes Thema möglichst umfassend mit Blick auf die aktuell vorliegende Situation umrissen; sämtliche Feststellungen sind – gerade natürlich im Hinblick auf die prozessuale Verwertbarkeit des Gutachtens – zu begründen. Ein Augenscheinbericht enthält in der Regel lediglich eine Schilderung von Beobachtungen, ohne dass hierfür ein besonderer Sachverstand vonnöten wäre. Demgegenüber besteht der Zweck des medizinischen Gutachtens gerade darin, Sachverhaltsfragen zu beantworten, welche einen besonderen Sachverstand voraussetzen. Was für den Augenscheinbericht gilt, kann grundsätzlich auch auf die Auskunft übertragen werden: Zweck einer Auskunft ist es, ein einzelnes Sachverhaltselement darzustellen, ohne dass hierfür ein besonderer Sachverstand vorausgesetzt würde.
Schwieriger ist die Abgrenzung des medizinischen Gutachtens zur ärztlichen Stellungnahme (BGE 122 V 157). Beide enthalten grundsätzlich Antworten auf spezifische Sachverhaltsfragen, welche einen besonderen Sachverstand voraussetzen. Mögliches Abgrenzungskriterium ist indessen die Frage nach der Abhängigkeit – ärztliche Stellungnahmen werden häufig von Ärzten verfasst, die in einem Anstellungsverhältnis zum auftraggebenden Sozialversicherungsträger stehen (Kreisärzte der SUVA, Regionaler Ärztlicher Dienst der IV). Zu beachten ist weiter, dass sich ärztliche Stellungnahmen häufiger als medizinische Gutachten auch zu Fragen äussern, welche nicht den besonderen Sachverstand eines medizinischen Fachmannes voraussetzen, und dass ärztliche Stellungnahmen häufiger als medizinische Gutachten ohne Untersuchung der versicherten Person, allein aufgrund der vorhandenen Akten zu den gestellten Fragen äussern.
Zusammenfassend ergibt sich anhand dieser Abgrenzungskriterien also folgendes:
Medizinische Gutachten dienen der Beantwortung von spezifischen Sachverhaltsfragen, welche einen besonderen Sachverstand voraussetzen, den Gesamtbefund berücksichtigen, eine dichte Begründung zu den einzelnen Feststellungen enthalten und von Fachpersonen abgegeben werden, die vom Sozialversicherungsträger unabhängig sind.
Voraussetzung: Notwendigkeit
Gemäss Art. 43 Abs. 1 und 2 ATSG müssen insbesondere ärztliche oder fachliche Untersuchungen notwendig sein. Dies gilt natürlich umso mehr für die – gerade im Vergleich zu ärztlichen Stellungnahmen (BGE 122 V 157) – überaus aufwendigen medizinischen Gutachten.
Massgebend ist einerseits, ob für die Beantwortung spezifischer Fragen des Sachverhaltes die besondere Sachverständigkeit eines Gutachters notwendig ist, und andererseits, ob von den entsprechenden Antworten neue Erkenntnisse erwartet werden können (BGE 124 V 90). Die Begutachtung muss, damit sie den Anforderungen von Art. 43 Abs. 2 ATSG genügt, von entscheidender Bedeutung für die Erstellung des rechtserheblichen Sachverhaltes sein (BGE U 571/06). Insofern andere Beweismittel eine Ermittlung des relevanten Sachverhaltes soweit zulassen, dass über den Leistungsanspruch mit dem im Sozialversicherungsrecht geltenden Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit befunden werden kann, sind medizinische Gutachten unnötig; der Sozialversicherungsträger hat diesfalls von einer Begutachtung Umgang zu nehmen.
Person des Gutachters
Gemäss Art. 44 ATSG werden Gutachten von unabhängigen Sachverständigen erstellt. Der Wortlaut dieser Bestimmung ist insofern von Bedeutung, als dass es um einzelne Personen geht, und nicht um Institutionen. Nur so kann im Übrigen gewährleistet werden, dass die versicherte Person ihre Rechte (insb. Ausstandspflicht befangener Gutachter) effektiv geltend machen kann.
Wichtigste Kriterien, welche ein Gutachter erfüllen muss, damit er ein prozessual verwertbares Gutachten erstellen kann, sind fachliche Qualifikation und Unabhängigkeit. Grundsätzlich muss aus dem Gutachten selbst oder aber aufgrund anderweitiger Information ersichtlich sein, was der wissenschaftliche Stand des Gutachters – und damit auch des Gutachtens selbst – ist. Andernfalls kann die Einordnung der getätigten Feststellungen im Gutachten schwer fallen, ist doch in diesem Fall nicht klar, welches der besondere Sachverstand ist, der dem Gutachten zugrunde liegt, und durch welchen sich das Gutachten ja gerade auszeichnen soll. Daher muss zumindest bekanntgegeben werden, welche Ausbildung der Gutachter absolviert hat, aber auch, wie er sich danach weiter- bzw. fortgebildet hat, welche Publikationen er veröffentlicht hat, und welche Mitgliedschaften für die Erstellung des Gutachtens von Bedeutung sein können.
Verfahren
Das Verfahren der Begutachtung kann in vier Schritte unterteilt werden, wobei in jedem Schritt darauf zu achten ist, dass der Anspruch der versicherten Person auf rechtliches Gehör nicht verletzt wird.
Zunächst wird die sachverständige Person bestimmt; die Kompetenz hierfür hat der Sozialversicherungsträger, der diese Kompetenz im Rahmen des pflichtgemässen Ermessens, willkürfrei und rechtsgleich ausübt. Der versicherten Person sind vor der Begutachtung Name und ergänzende Angaben der sachverständigen bekannt zu geben. Der versicherten Person steht das Recht zu, die sachverständige Person abzulehnen – wobei einem entsprechenden Antrag nur zu folgen ist, wenn triftige Gründe vorliegen (d.h. Abhängigkeit oder mangelnde fachliche Qualifikation). Verbunden mit dem Recht auf Ablehnung ist das Recht auf Unterbreitung eines Gegenvorschlages: Lehnt die versicherte
Person die sachverständige Person mit triftigen Gründen ab, darf sie einen Ersatz vorschlagen. Fraglich ist, ob der Sozialversicherungsträger, wenn er dem Antrag auf Ablehnung nicht stattgibt, mittels formeller (Zwischen-) Verfügung über diese Frage zu bestimmen hat. Meines Erachtens wäre dies die richtige Vorgehensweise (vgl. Art. 49 Abs. 1 ATSG). Ist die sachverständige Person bestimmt worden, gilt es, einen Fragenkatalog zu erstellen, dessen Fragen mittels des Gutachtens beantwortet werden sollen. Auch dieser Fragenkatalog wird grundsätzlich vom Sozialversicherungsträger erstellt. Wiederum hat indessen die versicherte Person das Recht, sich hierzu zu äussern. Sie kann namentlich Bemerkungen bzw. Einwendungen anzubringen sowie Ergänzungsfragen stellen. Stehen Person des Gutachters und Fragenkatalog fest, wird schliesslich die Begutachtung selbst durchgeführt. Im Anschluss an die Begutachtung ist der versicherten Person das Recht auf Stellungnahme einzuräumen. Die versicherte Person darf sich dabei sowohl zum Inhalt des Gutachtens als auch zu den Ergebnissen äussern. Dieses Recht darf hinausgeschoben werden, wenn die Verfügung, welche sich auf das Gutachten stützt und im Anschluss an die Begutachtung erstellt und eröffnet wird, mittels Einsprache angefochten werden kann (Art. 42 ATSG). Insbesondere aus Gründen der Verfahrensökonomie kann indessen von dieser Regel abgewichen werden.
Materielle Anforderungen
Damit ein medizinisches Gutachten prozessual verwertet werden kann, müssen bestimmte materielle Anforderungen erfüllt sein. Massgebend ist, dass sich das Gutachten hinlänglich zu den gestellten Fragen äussert, d.h. sämtliche Angaben enthält, welche zur Begründung der Antworten vonnöten sind, dabei aber nicht über die gestellten Fragen hinausgeht, d.h. nur die gestellten Fragen beantwortet.
Vereinfacht:
- Das Gutachten soll nur die gestellten Fragen beantworten, diese aber vollständig.
- Das Gutachten hat sich hierfür einerseits zum Gesundheitszustand und andererseits zum Fähigkeitsprofil der versicherten Person zu äussern.
- Die vollständige Darstellung des Gesundheitszustandes bedingt, erstens, die Erhebung mindestens der persönlichen, der beruflichen und der gesundheitlichen Anamnese. Findet keine Anamneseerhebung statt, so können die Feststellungen im Gutachten logischerweise lediglich für den Zustand im Zeitpunkt der Begutachtung gültig sein, nicht aber für den Zeitraum vor der Begutachtung. Sodann sind im Gutachten, zweitens, auch sämtliche geklagten Beschwerden wiederzugeben. Drittens sind die objektiven Befunde zu beschreiben. Sodann hat sich das Gutachten spezifisch zu den festgestellten Funktionseinschränkungen zu äussern; es ist eine entsprechende Diagnose zu stellen. Betreffend Fähigkeitsprofil hat das Gutachten konkrete Aussagen zur verbleibenden Leistungsfähigkeit sowohl in der bisherigen als auch in einer angepassten Tätigkeit zu enthalten. Sofern Hinweise auf aussichtsreiche Eingliederungsmassnahmen bestehen, sind diese ebenfalls im Gutachten aufzuführen. Das Gutachten muss schlüssig, nachvollziehbar und in sich geschlossen sein.
Selbstverständlich genügt es nicht, wenn der Sozialversicherungsträger lediglich feststellt, diese Kriterien seien erfüllt. Vielmehr erfüllt ein Gutachten diese Kriterien nur dann, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind:
In logischer Hinsicht müssen einerseits die einzelnen gestellten Fragen schlüssig und nachvollziehbar beantwortet werden: Die einzelne Antwort muss sich eindeutig auf die konkret zu beantwortende Frage beziehen und diese umfassend und deutlich beantworten (Kriterium der logischen Schlüssigkeit). Aus dem Gutachten muss hervorgehen, was die Gründe für die gegebene Antwort sind (Kriterium der logischen Nachvollziehbarkeit). Sodann muss das Gutachten in sich geschlossen sein, d.h. die einzelnen Antworten dürfen zueinander nicht in Widerspruch stehen; jede einzelne Antwort muss sich logisch und widerspruchsfrei in den Gesamtkontext von Befunden, Begründung und Antworten einfügen (Kriterium der logischen Geschlossenheit).
In medizinischer Hinsicht müssen die einzelnen Zustände und Zusammenhänge so dargelegt werden, dass auch für den Laien nachvollziehbar ist, weshalb im Gutachten die einzelnen gestellten Fragen der entsprechenden Antwort zugeführt werden. Die Begründung der Schlussfolgerungen muss sodann für eine rechtliche Prüfung durch die Behörde geeignet sein. Können Unsicherheiten und Unklarheiten nicht vollständig beseitigt werden, so ist im Gutachten darauf hinzuweisen.
Würdigung des Gutachtens
Das Gutachten enthält, wie oben angeführt, qualifizierte Aussagen zu spezifischen Sachverhaltselementen. Es liefert damit der prüfenden Behörde eine Entscheidgrundlage. Als Beweismittel ist es dabei aber im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben durch die prüfende Behörde zu würdigen, und zwar frei, d.h. ohne Bindung an förmliche Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss. Massgebend für den Beweiswert eines Gutachtens ist demnach weder Herkunft noch Bezeichnung der Stellungnahme, sondern dessen Inhalt. Das Bundesgericht hat es indessen als mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung vereinbar erachtet, in Bezug auf bestimmte Formen medizinischer Berichte und Gutachten Richtlinien für die Beweiswürdigung aufzustellen (BGE 122 V 157).
Als besonders aussagekräftig werden Gerichtsgutachten qualifiziert; von der Einschätzung eines medizinischen Experten, dessen Aufgabe es gerade sei, seine Kenntnisse in den Dienst der Gerichtsbarkeit zu stellen, wird nicht ohne zwingende Gründe abgewichen (BGE 118 V 286). Als zwingende Gründe gelten (beispielhaft): Widersprüchlichkeit des Gutachtens, Relativierung der Feststellungen durch ein vom Gericht eingeholtes Obergutachten, welches in überzeugender Weise zu anderen Schlussfolgerungen gelangt oder fehlende Schlüssigkeit aufgrund gegensätzlicher Meinungsäusserungen anderer Fachexperten, welche dem Richter als triftig erscheinen.
Gutachten, welche vom Sozialversicherungsträger im Rahmen des Verwaltungsverfahrens in Auftrag gegeben worden sind (externe Versicherungsgutachten) sind grundsätzlich ebenfalls als besonders aussagekräftig zu qualifizieren; werden solche Expertisen durch anerkannte Spezialärzte aufgrund eingehender Beobachtungen und Untersuchungen sowie nach Einsicht in die Akten erstattet und gelangen diese Ärzte bei der Erörterung der Befunde zu schlüssigen Ergebnissen, so darf der Richter in seiner Beweiswürdigung solchen Gutachten volle Beweiskraft zuerkennen, solange nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen (BGE 104 V 209). Was Parteigutachten anbelangt, so rechtfertigt der Umstand allein, dass eine ärztliche Stellungnahme von einer Partei eingeholt und in das Verfahren eingebracht wird, nicht Zweifel an ihrem Beweiswert (BGE 122 V 157).
Weil die Sozialversicherungsträger in beweisrechtlicher Hinsicht zur Objektivität verpflichtete gesetzliche Organe sind, kann auch den Berichten und Gutachten versicherungsinterner Ärzte (internes Versicherungsgutachten) Beweiswert beigemessen werden, sofern sie als schlüssig erscheinen, nachvollziehbar begründet sowie in sich widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit bestehen. Die Tatsache allein, dass der befragte Arzt in einem Anstellungsverhältnis zum Versicherungsträger steht, lässt nicht schon auf mangelnde Objektivität und Befangenheit schliessen. Es bedarf vielmehr besonderer Umstände, welche das Misstrauen in die Unparteilichkeit der Beurteilung objektiv als begründet erscheinen lassen (BGE 120 V 357). Im Hinblick auf die erhebliche Bedeutung, welche den Arztberichten im Sozialversicherungsrecht zukommt, ist an die Unparteilichkeit des Gutachters allerdings ein strenger Massstab anzulegen (BGE 120 V 357).
Obwohl die Herkunft eines Gutachtens in Anbetracht der Richtlinien für die Beweiswürdigung, wie sie das Bundesgericht bzw. das Eidgenössische Versicherungsgericht aufgestellt hat, grundsätzlich ebenfalls für den Beweiswert eines Gutachtens von Bedeutung sein kann, ist letztlich der Inhalt des Gutachtens selbst von ausschlaggebender Bedeutung. Welchen Anforderungen dieser genügen muss, wurde bereits oben ausgeführt. Grundsätzlich kann darauf verwiesen werden. Das Bundesgericht hat indessen einen eigentlichen Katalog von Bedingungen aufgestellt, welchen ein medizinisches Gutachten erfüllen muss, damit ihm Beweiswert anerkannt werden kann. Zwar entsprechen diese Bedingungen letzten Endes den oben erwähnten Anforderungen an medizinische Gutachten, doch ist es sicherlich von Nutzen, wenn sie hier nochmals im genauen Wortlaut wiedergegeben werden:
Es ist zu prüfen,
- ob das Gutachten für die Beantwortung der gestellten Fragen umfassend ist und auf den erforderlichen allseitigen Untersuchungen beruht,
- ob es die geklagten Beschwerden berücksichtigt,
- ob es in Kenntnis und gegebenenfalls in Auseinandersetzung mit den Vorakten abgegeben worden ist,
- ob es in der Darlegung der medizinischen Zustände und Zusammenhänge einleuchtet,
- ob die Schlussfolgerungen der sachverständigen Person in einer Weise begründet sind, dass die rechtsanwendende Behörde sie prüfend nachvollziehen kann, und
- ob die sachverständige Person nicht auszuräumende Unsicherheiten und Unklarheiten, welche ihr die Beantwortung der Fragen erschweren oder verunmöglichen, gegebenenfalls deutlich macht.